Gedanken zum Kino, die ich im Rahmen eines Aufsatzes für einen medienwissenschaftlichen Kurs verfasst habe, könnt Ihr entweder im
Audio-Essay „Warum das Kino?“ von und mit Luca Schepers hören
oder hier nachlesen:
Meine persönliche Filmgeschichte
Wenn ich versuche die Anfänge meiner persönliche Filmgeschichte zu rekonstruieren, stellt sich diese als eine Aneinanderreihung von Verstörungen und Angstzuständen dar. Oft verließ ich den Kinosaal unglücklicher als ich ihn betreten hatte und wurde das Gefühl nicht los, Zeuge von etwas gewesen zu sein, für das ich noch nicht bereit war oder zu keinem Zeitpunkt bereit sein würde. Ich war der festen Überzeugung, das Kino sei, ähnlich einem Flipperautomaten oder Spielzeuggewehr, für jemand Anderen gemacht, der mehr wusste und vertragen konnte; möglicherweise entsprach dies zu dem damaligen Zeitpunkt auch der Wahrheit. Und nichtsdestotrotz konnte ich mich einer unbestimmten Anziehungskraft nicht erwehren und kehrte immer wieder zum Kino zurück.
Begonnen hatte dieses ambivalente Verhältnis an einem Sonntag Vormittag in meinem vierten oder fünften Lebensjahr. Ich saß im Schneidersitz auf unserem Wohnzimmersofa und sah mit meiner Mutter auf unserem heimischen Röhrenfernseher die VHS-Kassette des Walt-Disney-Zeichentrickklassikers „Pinocchio“ an. Die titelgebende Hauptfigur wurde entführt, verkauft, in einen Wohnwagen gesperrt, mit anderen Kindern in einen Freizeitpark gelockt, der sich als Arbeitslager für anthropomorphe Esel entpuppte und schließlich von einem Moby-Dick-esken Wal verschlungen. Pinocchio überschritt die Grenze des für mich Ertragbaren und trotzdem bat ich meine Mutter – der der Einfluss, den der Film auf mich gehabt hatte, nicht entgangen sein kann – immer wieder aufs Neue, sich die Kassette mit mir anzusehen.
Das erste Mal, dass ich einen Film auf einer großen Leinwand sah, war in einem Vergnügungspark. Es handelte sich um ein stereoskopisches 3D-Kino. Am Eingang wurden allen Besuchern eine Rot-Cyan-Brille aus Pappe ausgehändigt, die ich nach der Vorstellung heimlich mit nach Hause nahm.
In dem gezeigten Kurzfilm ging es um eine Bande Piraten, die sich auf einer Südseeinsel auf die Suche nach einem Schatz begaben und dabei auf eine Vielzahl von absurden Hindernisse stießen. Als einer der Piraten schließlich von einem aggressiven Bienenschwarm verfolgt wurde, der, begleitet von einem unangenehmen Luftdruck im Fußraum des Kinositzes, direkt auf die Kamera und somit das Kinopublikum zusteuerte, hielt ich die Dreidimensionalität nicht mehr aus und mir die Augen und Ohren zu.
Später saß ich mit der Papier-Brille oft vor meinem Computer oder dem Fernseher und behauptete, ich sehe den Bildschirminhalt nun in 3D. Die Vorstellung des „Kinos als Vergnügungspark“ hatte sich in mir manifestiert.
Der erste Film, für den ich tatsächlich ein Kino besuchte, war mit großer Wahrscheinlichkeit „Ein Königreich für ein Lama“. Ich war sechs Jahre alt und in Begleitung meines Vaters, der ein Interesse daran hatte, mir alles zu zeigen, das groß und technisch aufwändig war. Als ich den Saal betrat, wurde gerade eine Vorschau für einen anderen Film abgespielt. Es handelte sich um den „Atlantis“-Zeichentrickfilm des Disney-Studios, der ein halbes Jahr später erscheinen sollte.
Zu sehen war auf der Leinwand die Totale eines U-Bootes im Jules-Verne-Stil. Nicht nur fühlte ich mich unfassbar klein, sondern auch dem Dargestellten unangenehm nah. Ich hatte keine Vorstellung von den Grenzen der Leinwand; selbst ein großes Bilderbuch war damals in der Lage gewesen, mich in sich aufzunehmen, wenn ich ihm nur zu Nahe kam.
Unweigerlich erinnerte ich mich an die Gigantomanie des Vergnügungsparks. Womöglich im Scherz warnte mein Vater mich vor, es könne einem schwindelig werden, vor der großen Leinwand. Nun erwartete ich von dem folgenden Film nicht weniger als eine wortwörtliche Achterbahnfahrt, ein Kribbeln im Bauch, das Gefühl von schneller Bewegung, Flugzeuglandungen oder freiem Fall. „Ein Königreich für ein Lama“ konnte meinen Ansprüchen in dieser Hinsicht nicht gerecht werden.
Als ich jedoch ein halbes Jahr später für den Atlantisfilm in das selbe Kino zurückgekehrt war, ließ mich eine supertotale Kamerafahrt über die Ausläufer der versunkenen Stadt den Höhenschwindel tatsächlich physisch spüren.
Außerdem war es das erste Mal, dass ich mich in einem Kinofilm mit dem Tod konfrontiert sah. War Pinocchio zumindest in letzter Sekunde durch eine Mund-zu-Mund-Atmung gerettet worden, stürzte der Antagonist aus „Atlantis“ aus einem Heißluftballon in die Untiefen einer submarinen Felsspalte. Paralysiert verließ ich das Kino. Ich hatte den Film mit meinem großen Cousin und seiner Freundin gesehen. Als ihnen mein anhaltendes Schweigen auf dem Rückweg unheimlich wurde, hielten sie mit ihrem Auto am Straßenrand und versuchten, mir den Film so schonend wie möglich nachzuerzählen. Es war mir unangenehm und half nicht.
Meine Beklemmung hielt noch einige Tage an. Mein Vater wollte mir nicht glauben, dass ein Zeichentrickfilm einen derartigen Eindruck bei mir hinterlassen konnte und vermutete, mein Cousin und seine Freundin hätten sich in der Dunkelheit des Saales geküsst, was ich nicht vertragen hätte.
In den folgenden Jahren fühlte ich mich im Kino oft fehl am Platz. In meiner Vorstellung war es ein Ort für Erwachsene oder zumindest ältere Kinder. Dies mochte auch mit den Filmen zusammenhängen, die ich sah.
Im Gegensatz zu vielen meiner damaligen Altersgenossen hatte ich kein Interesse daran, mich gegen die Regeln der Altersbeschränkung oder meiner Eltern aufzulehnen. Wenn im Fernsehen ein Film zu sehen war, dem ein FSK-16-Warnhinweis vorausging, schaltete ich den Apparat schnellstmöglich aus und versuchte meinen Herzschlag zu beruhigen.
Exemplarisch dafür steht meine Beziehung zu „Indiana Jones und der Tempel des Todes“, an dem ich zuerst aufgrund der anderen beiden Teile der Trilogie ein großes Interesse hatte. Als ich herausfand, dass dieser erst ab 16 Jahren freigegeben war, war ich regelrecht enttäuscht von dem Protagonisten Indiana, als auch dem Darsteller Harrison Ford, in einem Film mitzuspielen, ein Medium zu benutzen, dass nicht für mich gemacht war, sich plötzlich einem anderen Publikum zuzuwenden, zu dem ich nicht in absehbarer Zeit, womöglich aber auch nie gehören würde.
Als ich im Alter von acht Jahren mit meiner Familie die Herbstferien an der Nordsee verbrachte, lief an einem verregneten Nachmittag „Edward mit den Scherenhänden“ im Fernsehprogramm. „Edward!“ rief meine Mutter, als sie den Eintrag in der Fernsehzeitung entdeckte. Es kam nicht oft vor, dass sie enthusiastisch von einem Film sprach. Sie erlaubte mir, ihn mit ihr zu sehen.
Dies stellte für mich eine Tour de Force dar, an deren Ende meine Faszination für Tim Burton geboren war. Er war der erste Regisseur, von dessen Existenz ich wusste und den ich beim Namen nennen konnte. Mehr noch; Tim Burton war für mich zu einer Lichtgestalt geworden, dem einzigen Anker in der unübersichtlichen Filmauswahl des Fernsehprogramms. Es gab lediglich Tim Burton, dessen visueller Stil selbst für mich als Achtjährigen unverkennbar war, und daneben den ganzen Rest.
Zu einem späteren Zeitpunkt, vielleicht mit zwölf oder dreizehn Jahren, las ich unter einem Youtubevideo, das einen thematischen Bezug zu „Edward mit den Scherenhänden“ gehabt haben musste, einen Kommentar, der eine erste berufliche Wunschvorstellung in mir festigte:
„I’m studying media science and we just watched this movie in class“.
Der Gedanke sich innerhalb einer schulischen Einrichtung mit Filmen – insbesondere diesem Film – auseinanderzusetzen, schien für mich unvorstellbar und utopisch.
Burton stand für etwas, das mich damals wie heute faszinierte. Seine Filme waren zu kindlich für ein erwachsenes Publikum, seine Themen und Bilder jedoch zu erwachsen für ein Kind. Diese scheinbar verunglückte Mischform fand sich für mich ebenfalls in dem Lemony-Snicket-Kinofilm und der Harry-Potter-Reihe wieder, von denen ich nicht genug bekam.
Ohne Frage stand diese Affinität in einer Beziehung zu meiner Abneigung gegenüber des Erwachsenenfilms. Das Kindliche in Kombination mit dem Unheimlichen hatten meine filmischen Erfahrungen von Anfang an geprägt und sollten mich noch einige Jahre begleiten.
Am stärksten äußerte sich meine Obsession für Tim Burton vor dem Kinostart seines neuen Filmes „Charlie und die Schokoladenfabrik“; zu diesem Zeitpunkt war ich elf Jahre alt. Unzählige Male hatte ich den Laptop meiner Mutter dafür missbraucht, den Trailer in Dauerschleife abzuspielen, das Video im Sekundentakt zu pausieren und jedes Einzelbild eingehend zu betrachten. Meine Aufregung hatte sogar die alljährliche Vorfreude auf Weihnachten weit übertroffen.
Als schließlich die Titelsequenz des Films – eine Spezialität von Tim Burton – über die Leinwand lief, konnte ich mein Herz rasen hören. Meine Schulfreundin Caroline hatte mich begleitet; in regelmäßigen Abständen versicherte ich mich, dass ihr der Film genauso gut gefiel, wie mir. Wir würden in den kommenden Wochen und Monaten jede Dialogzeile in einen geheimen Witz transformieren, bestimmte Szenen einstudieren und nachspielen, annähernd jede Situation des realen Lebens auf „Charlie und die Schokoladenfabrik“ beziehen können und damit unseren Mitmenschen tierisch auf die Nerven gehen, denn all unsere Erwartungen waren übertroffen worden.
Auf die zermürbende Vorfreude folgte der noch dringlichere Wunsch, den Film ein weiteres Mal zu sehen, ihn in irgendeiner analogen Form zu besitzen und allen Menschen zu zeigen, die ich kannte.
Vielleicht war es kein Zufall, dass „Charlie und die Schokoladenfabrik“ eine Rückkehr zum „Film als Vergnügungspark“ darstellte und deswegen einen bestimmten Nerv traf. Die Struktur war klar und formelhaft, nach und nach wurden die Räume der Fabrik erkundet, die kindlichen Besucher durch unglückliche Zufälle dezimiert und dazwischen gab es sogar die ein oder andere waschechte Jahrmarktsattraktion, wie das pinke Bonbonboot und den gläsernen Fahrstuhl. Natürlich fand ich auch Gefallen an den skurrilen Figuren und dem unheimlichen Subtext der Geschichte, doch ohne die Effekte und Ausstattung hätte ich den Zugang womöglich nicht gefunden. Kino war für mich wieder eine Geisterbahn.
Kurze Zeit später entdeckten meine Mutter und ich in der Grabbelkiste eines Supermarktes die VHS-Kassette von „Sleepy Hollow“. Meine Mutter mochte Johnny Depp – insbesondere in seiner Rolle des Edward – deswegen hatte sie Interesse an dem Film und erkundigte sich mehrmals, ob ich mich denn trauen würde, den Film mit ihr anzusehen, wenn sie ihn kaufen würde. Zwar war der Name „Tim Burton“ mehrmals auf Vorder- und Rückseite der Kassettenhülle abgedruckt, doch hatte mir bereits die Zeichentrickversion der selben Geschichte vor wenigen Jahren große Angst eingejagt und der Film war ab sechzehn Jahren freigegeben. Als ich meine Mutter auf das übergroße FSK-Logo hinwies, vielleicht in der Hoffnung, sie würde es mir dann verbieten, zuckte sie mit den Schultern. Ich überwand mich und sagte „Ja“.
„Sleepy Hollow“ war der erste lupenreine Horrorfilm, den ich sah, beziehungsweise in Teilen sah, denn meine Mutter achtete gut darauf, mir bei den Gewaltspitzen die Augen zuzuhalten. Im Falle von Sleepy Hollow bedeutete dies, dass ich leider viel Essentielles versäumte. Wir sahen den Film verteilt auf drei Abende, denn wir konnten erst verhältnismäßig spät damit beginnen, damit meine kleine Schwester nicht erfuhr, dass wir nach ihrer Schlafenszeit gemeinsam fern schauten. Womöglich hätte „Sleepy Hollow“ ihr wenig ausgemacht, denn trotz des Altersunterschiedes von fünf Jahren war sie durch meinen Einfluss zu einer hartgesottene Zuschauerin geworden und ließ sich nur schwer von etwas schockieren.
Als ich vierzehn Jahre alt war kauften sich meine Eltern einen Festplattenrekorder. Ich hatte nun die Möglichkeit Filme aufzuzeichnen, insbesondere solche, die zu späteren Uhrzeiten liefen. Ich kann mich erinnern auf diese Weise eine fast vollständige Sammlung von Tim Burtons Filme angelegt zu haben, darunter „Beetlejuice“, „Ed Wood“, die Neuverfilmung von „Planet der Affen“, „Batman“ und „Batman Returns“.
Auch fand ich inzwischen Gefallen an den Filmkomödien mit Jim Carrey. „Der Dummschwätzer“, „Wie Dick und Jane“, „Bruce Allmächtig“, „Die Maske“, „Ace Ventura“, „Cable Guy“ und „Der Ja Sager“ hatten etwas definiert, dass ich damals selbstbewusst „meinen Humor“ nannte. In diesem Kontext sah ich zum ersten Mal „Die Truman Show“ und war enttäuscht, dass die Grimassen und Witze so rar gesät waren.
Im Laufe der Zeit wuchs diese Sammlung an und die Speicherkapazitäten des Gerätes waren bald ausgeschöpft, also musste ich mich zwangsläufig für eine bestimmte Auswahl an Filmen entscheiden. „Shining“ und „Blair Witch Project“, „The Frighteners“ von Peter Jackson, „Kill Bill Vol.1“ (aber nur Volume 1) und „Scream“ in einer stark geschnittenen Fassung wurden in Diese aufgenommen und ich verabschiedete mich von einer Vielzahl von Horror- und Erotikfilmen, an deren Titel ich mich nicht einmal erinnern kann.
Das letzte Mal, dass mir ein Film derart imponierte, dass er mein Denken und Fühlen für Wochen in Beschlag nahm (und zur selben Zeit das letzte Mal, dass mir ein Film von Tim Burton gefiel), war „Sweeney Todd“. In der Tradition von „Edward mit den Scherenhänden“ und „Sleepy Hollow“ begaben meine Mutter und ich uns gemeinsam ins Kino. Ich war noch immer vierzehn Jahre alt. Die Kombination des Musicalfilms, den ich in seiner allgemeinen Form für harmlos gehalten hatte, mit der düsteren Stimmung des viktorianischen Londons und den horrenden Gewaltexzessen traf einen bestimmten Nerv. Wieder war es meiner Mutter gelungen, mir an entsprechenden Stellen die Augen zuzuhalten. Dieses Mal hatte es jedoch den gegenteiligen Effekt: Die unappetitlichen Geräusche ließen mich Schlimmeres vermuten, als tatsächlich auf der Leinwand zu sehen war.
Sweeney Todd war das letzte Mal, dass mich etwas nachhaltig bedrückt hatte. In dieser Nacht lag ich hellwach im Bett und spielte jede einzelne Szene in chronologischer Reihenfolge vor meinem inneren Auge ab.
Danach hatte ich nie wieder ein ähnliches Erlebnis, ein Feingefühl war in mir gestorben, das nicht ein mal Gaspar Noés „Irreversible“, Michael Hanekes „Funny Games“ oder Lars von Triers „Dogville“ und „Antichrist“ hatten wiedererwecken können. Vielleicht handelte es sich um nostalgische Verklärung, doch ich vermisste die Fähigkeit mich erschrecken zu lassen. All jene Erlebnisse, begonnen mit „Pinocchio“, hatten sich unwiderruflich in mein Gedächtnis gebrannt. Vielleicht war es für mich eine Form der Katharsis, vielleicht auch nicht mehr als eine aufregende Grenzüberschreitung, doch halte ich diese Momente, seien sie vielleicht auch der gesunden Entwicklung eines Kindes nicht zuträglich und aus der Unachtsamkeit meiner Eltern entstanden, für wertvolle Erinnerungen, die ich nicht missen möchte.
Wie bereits erwähnt endete an diesem Punkt leider meine Affinität für Burton. Auch wenn ich mich selbst davon zu überzeugen versuchte, dass mir „Alice im Wunderland“ irgendwie gefallen hatte, konnte ich nicht leugnen, dass sich im Laufe der Zeit allzu klare Muster herausgebildet hatten. Verzerrte Bäume, farbentsättigte Landschaften, die verträumten Danny-Elfman-Soundtracks, Johnny Depp, Helena Bonham Carter, Christopher Lee; plötzlich wurde alles für mich zu einer Pose, der Tim-Burton-Schablone, einem Rezept, dass sich stetig wiederholte, ohne sich selbst neu zu erfinden. Entgegen allen meiner Erwartungen, verlor ich das Interesse. Eine ähnliche Erfahrung habe ich später leider auch mit den Filmen von Wes Anderson machen müssen. Ich fragte mich, ob sich jene Filmemacher dieser Repetition bewusst waren und vielleicht sogar dazu verpflichtet wurden, sich ständig zu wiederholen, oder ob dies einfach früher oder später mit jedem Menschen geschah, dessen kreatives Potential erschöpft war.
Mit 16 Jahren sah ich zum ersten mal auf Empfehlung eines älteren Klassenkameraden hin „Fight Club“ und fühlte mich elektrisiert. Plötzlich war ich angekommen in einer Welt der vermeintlich Erwachsenen. Allein über den Film, über Tyler Durden und über das Projekt Chaos zu sprechen war rebellisch, aber auf eine bequeme und angenehm überhebliche Art. Außerdem enthielt der Film keine klare Handlungsanweisung. Nichts Anderes konnte man tun, als „Fight Club“ immer wieder von Neuem zu sehen, Poster über sein Bett zu hängen und sich in seinem jugendlichen Weltschmerz zu verlieren.
Die Künstlichkeit und Präzision des Regisseurs David Fincher gefiel mir gut. Ich ließ Burton schweren Herzens hinter mir und definierte Fincher zu meinem neuen Status Quo. „Se7en“, „The Social Network“, „The Game“, „The Girl with the Dragon Tattoo“ und „Zodiac“ wurden zu meinen neuen Lieblingsfilmen und selbst Finchers schwächere Werke wie „Panic Room“ oder „Alien 3“ gefielen mir auf eine gewisse Art und Weise.
Der elegante Computerlook, die unmöglichen Kamerafahrten, das pessimistische, misanthrope Weltbild sprachen mich an und ließen mich für eine Zeit lang nicht los.
Als ich Siebzehn Jahre alt war, begann ich Filme in einer analogen Form zu sammeln. Seitdem ich einen Internetanschluss bekommen hatte, vernachlässigte ich sowohl den Festplattenrekorder, als auch den Fernseher. „Youtube“ und verschiedenste Streamingwebsiten waren meine neuen Plattformen für Filme geworden. Ich hatte mir einen BluRay-Player zugelegt und mehrere kleine Nachhilfe-Jobs angenommen, um mir die entsprechenden Filme leisten zu können. Meine ersten zwei Käufe waren „Black Swan“ von Darren Aronofsky und „28 Days later“ von Danny Boyle. Ersterer war in Teilen mit einer Spiegelreflexkamera gedreht worden, letzterer aus stilistischen Gründen mit alten DV-Kameras und ich war fälschlicherweise enttäuscht von der Bildqualität meines Gerätes und des neuen Datenträgers. Trotzdem führte für mich kein Weg mehr zurück zu der DVD, der in einschlägigen Internetforen eine äußerst kurze Lebensdauer zugesprochen wurde; ein Gedanke, den ich nicht ertragen konnte.
Seitdem erweiterte sich meine Sammlung stetig. Ich glaube, dass es eine Sammlung gegen das Vergessen war, denn nichts bereitete mir mehr Angst, als die Vorstellung einen Film wieder zu vergessen, den ich ein mal gesehen hatte.
Außerdem hatte ich in dieser Zeit begonnen, Filmpodcasts und -rezensionen zu konsumieren. Diese waren unter anderem der deutschsprachige GameOne-Plauschangriff und der Celluleute-Podcast. Auch interessierte ich mich für die Kritiken von moviemaze, filmstarts und Roger Ebert. Ich lernte die Regisseure Quentin Tarantino, Stanley Kubrick, John Carpenter, David Lynch und die Coen Brüder kennen und vertiefte mein Wissen über Steven Spielberg, James Cameron und Paul Verhoeven. Im Kino der Gegenwart definierte eine Zeit lang die Oscar-Preisverleihung die Filme und Filmemacher von Interesse. Auch hatte ich Gefallen daran gefunden, mindestens eine der Nominierungen als Fehlentscheidung zu titulieren und dies mein direktes Umfeld wissen zu lassen, dessen Interesse für meine Meinung sich in Grenzen hielt.
Anders verhielt es sich mit dem Horrorfilm, der damals einen besonderen Stellenwert für mich und meine Freunde eingenommen hatte. Selten wurden dieser im Alleingang konsumiert; man traf sich in großer Runde und gab sich größte Mühe, sich vom Geschehen auf dem Bildschirm schockieren zu lassen. Fast interessanter als der tatsächliche Film waren dabei die überspitzten Reaktionen der Mitzuschauer. Hatte unsere regelmäßige Zusammenkunft mit harmlosen Jump-Scare-Geisterfilmen wie „Die Frau in Schwarz“ oder „Insidious“ begonnen, versuchten mein bester Freund und ich uns bald gegenseitig mit außerordentlich brutalen oder zumindest schockierenden Geheimtipps zu übertreffen. Die Filme der „New French Extremity“, zum Beispiel „À l’intérieur“, „Martyrs“ und „Haute Tension“ wurden unser Maßstab für die Darstellung von Gewalt und Ekel.
Meine Erfahrungen mit dem asiatischen Kino beschränkten sich auf die populärsten Filme des südkoreanischen Regisseurs Park Chan-wook, inklusive „Oldboy“, „Sympathy for Mr. Vengeance“ und „Stoker“ und sporadischen J-Horrorfilmen wie „Ju-On“ oder „Audition“ des japanischen Regisseurs Takashi Miike.
Ich wurde achtzehn Jahre alt und zwei Filme lösten mit einiger Verzögerung eine komplette Neuorientierung meines Filmgeschmacks aus. Es handelte sich um „Being John Malkovich“ von Spike Jonze und „Leon – Der Profi“ von Luc Besson.
Beide gefielen mir, weil sie in jeder Hinsicht anders als alles waren, was ich bisher aus dem Kino kannte. Rückwirkend glaube ich, dass ich auch in den Filmen von Tim Burton und David Fincher eine Andersartigkeit gesehen habe, die sich nach und nach durch Repetition der Regie verflüchtigt hatte.
„Leon – Der Profi“ war plötzlich etwas ganz anderes. Ich kann mich an einen Youtubekommentar erinnern, den ich zu der Zeit gelesen hatte: „Although this takes place in New York you feel so hard that it’s not an American movie“.
Ich hatte plötzlich etwas für mich entdeckt, dass sich wohl „der nicht-amerikanische Film“ nannte und Luc Besson damit gleichgesetzt. Kurz darauf benannte ich diesen schwammigen Begriff in „der französische Film“ um, auch wenn dies nicht unbedingt der Wahrheit entsprach. „Das fünfte Element“, „La femme Nikita“ und „Subway“; das „Cinema du Look“ repräsentierte für mich Frankreich. „Ich liebe französische Filme“ hatte ich in der Schule gesagt und es machte Eindruck auf meine Mitschüler, denn wer konnte damals schon sagen, aus welchem Land ein Film kam und ob dies per se ein gutes oder schlechtes Attribut war.
Mit „Being John Malkovich“ wurde ich auf die Arbeiten des Drehbuchautoren Charlie Kaufman aufmerksam. Formal war der Film nüchterner und gewöhnlicher als das Kino von Luc Besson, dafür veranschaulichte Kaufman was im Bereich des Drehbuchschreibens abseits der Norm alles möglich war. In „Eternal Sunshine of the Spotless Mind“ erkannte ich einen großen Film, obwohl er mir nicht auf Anhieb gefiel. Es dauerte eine Zeit, bis ich Zugang zu der Melancholie und ungewöhnlichen Dekonstruktion klassischer Hollywoodnarration fand. Ähnliches galt für „Synecdoche New York“.
Ich definierte nun die filmische Fremdheitserfahrung zum Sinn und Zweck meiner Leidenschaft für das Kino. Diese näher zu beschreiben fiel mir schwer, denn natürlich war mir ein Großteil der Inhalte der Spielfilme, die ich sah im wörtlichen Sinne fremd; wer führte schon das Leben eines Doppelnullagenten, Marvel-Superhelden oder Sternenflottenkommandeurs. Eine grundlegende Andersartigkeit, die schwer greifbar und kaum vorzeigbar, aber nichtsdestotrotz omnipräsent war, suchte man aber oft vergeblich und fand sie an ganz anderer Stelle. Je fantastischer die Handlung eines Spielfilms ausfiel, desto konventioneller geriet meistens auch die Erzählweise.
Die Filme von Roy Andersson, Stanley Kubrick und David Lynch wiederum beeindruckten mich und dennoch fühlte ich mich wie hinter einer verschlossenen Tür. Es waren unter anderem die Werke von Jean-Pierre Jeunet, Alexander Payne, Lynne Ramsay, Federico Fellini und Nicolas Winding Refn, die mich mühelos in ihre Welten einbezogen, obwohl sich diese fundamental von der meinen unterschieden.
Mit Anfang Zwanzig entdeckte ich den japanischen Zeichentrickfilm. Als ich jünger war und meine Mutter noch um Erlaubnis bezüglich des Kinderfernsehprogramms hatte fragen müssen, hatte sie oft geäußert, ihr gefiele der Zeichenstil der japanischen Trickfilme nicht – eine Einstellung die ich sogleich übernahm. Heidi, Wickie, Biene Maja und Pinocchio stellten für uns eine Ausnahme dar, da wir sie aus keinem ersichtlichen Grund für deutsche Produktionen hielten.
Später hatte ich bei meinem Cousin unfreiwillig „Chihiros Reise ins Zauberland“ (Spirited Away) sehen müssen, doch hatte mich dieser lediglich verwirrt und befremdet zurückgelassen und ich hatte das Gefühl nicht loswerden können, dass diese Art von Film nicht für mich gemacht war.
Zehn Jahre später jedoch war ich überwältigt. Ich sah „Prinzessin Mononoke“, „Mein Nachbar Totoro“, „Das wandelnde Schloss“, „Tränen der Erinnerung“, „Stimme des Herzens“ und geriet in einen Sog, dem ich mich nicht verwehren konnte.
Ich ärgerte mich darüber, dass ich dieses Genre nicht früher entdeckt und gemocht hatte, zu einer Zeit, in der es mich noch hätte prägen oder schockieren konnten. Ich sehnte mich regelrecht nach einer Verstörung, die man nur als Kind erfahren konnte.
Ich mochte die elegante Schlichtheit der Handlung, den Verzicht auf Erklärungen, die surreale Konfrontation mit einer vollkommen fremden Kultur und die ausgezeichnete Animationstechnik. Auch die Symbiose des Kindlichen und Unheimlichen war zurückgekehrt und irritiere mich noch immer.
Meine Begeisterung für dieses Thema ließ zeitweise kein Interesse an anderen Filme zu; ich war vollkommen gefangen und sog alles auf, was mir in die Hände geriet, darunter vor allem die Werke des Studios Ghibli unter Hayao Miyazaki, aber auch die erwachseneren Anime von Satoshi Kon und Mamoru Hosoda.
Schließlich fand ich auf diesem Weg ebenfalls endlich zum asiatischen Realfilm. Insbesondere der südkoreanische Regisseur Bong Joon-Ho („The Host“, „Mother“, „Memories of Murder“, „Snowpiercer“), die Martial-Arts-Filme mit Jackie Chan und Bruce Lee und der Japaner Takeshi Kitano hatten es mir angetan. Im Alter von 22 Jahren sah ich zum ersten Mal „Hanabi“ und war begeistert. „Das Andere“ hatte wieder Einzug gefunden, der Schnitt, die Kameraarbeit, das minimalistische Spiel von Kitano waren schwer zugänglich und zur selben Zeit wunderbar melancholisch und immersiv.
Inzwischen studierte ich „Medienkunst“ an der Bauhaus Universität und lernte innerhalb eines Lehrmoduls die Film von Federico Fellini kennen: „Achteinhalb“, „Amarcord“, „Giulietta degli spiriti“, „La dolce vita“, „Satyricon“ und „La Strada“ hinterließen großen Eindruck bei mir. Hier war das Kino kein Vergnügungspark, sondern ein Zirkus, ein berauschendes Fest, ein großes kafkaeskes Durcheinander, in dem es für den Zuschauer und Protagonisten kein Halten, keine Orientierung, keine Ordnung mehr gab. Dieser Kontrollverlust gefiel mir und ich konnte zum ersten Mal ehrlich behaupten, dass mir Filme aus der Schwarz-Weiß-Ära tatsächlich gefallen hatten. Auch mochte ich die Werke seines Nachfolgers im Geiste, Paolo Sorrentino, so zum Beispiel „La grande bellezza“, „Cheyenne – This must be the place“, „Il divo“ und „Youth“, auch wenn diese erheblich zahmer und melancholischer ausfielen.
Ebenfalls durch die Universität fand ich Zugang zu Klassikern des Dokumentarfilms, wie „Grey Gardens“ oder „Shermans March“, als auch des Slapstickfilmes. „Der General“ von Buster Keaton erinnerte mich daran, was alles möglich war im Actionfilm und die Werke des französischen Komikers Jacques Tati definierten meine Vorstellung von visueller Komik und sprachlosem Film vollkommen neu. In diesem Zusammenhang sind auch die entfernten Verwandten „Les Triplettes de Belleville“ und „L’Illusionniste“ des Animationskünstlers Sylvain Chomet zu nennen.
In dieser Zeit verlieren sich die klaren Zuordnungen und Stimmungen und werden zu einer unüberschaubaren Verästelung einzelner einschneidender Erlebnisse. So wären zum Beispiel der Vollständigkeit halber die Filme von Denis Villeneuve zu nennen, der dem Blockbuster seinen Glanz zurückgegeben hat, als auch Terry Gilliam und Yorgos Lanthimos, die maximale Entrücktheit zur Normalität haben werden lassen, David Cronenberg, der immer neue Wege gefunden hat, den menschlichen Körper auseinanderzunehmen, Paul Thomas Anderson, Edgar Wright, Darren Aronofsky, Tom Ford, Pedro Almodóvar, Tarsem Singh, Fatih Akin, Joe Wright, „Chicago“, „Jacobs Ladder“ und „Donnie Darko“.
Meine jüngste Entdeckung Xavier Dolan ist erst wenige Tage alt. Auch ihm gelingt die perfekte Symbiose von Entfremdung und Anbiederung, Tragischem und Menschlichem, dem Bekannten und Unbekannten. Auch seine eigene Bildsprache hebt sich wohltuend von bereits Gesehenem ab.
Immer wenn ich mir sicher gewesen war, alles gesehen zu haben, mir eine gute Übersicht über die weitläufige Bibliothek des Films verschafft zu haben, folgte eine neue Entdeckung, ein Paukenschlag, ein Weckruf, der mich an die Unberechenbarkeit des Kinos erinnerte.
„Die eigene Geschmacksbildung ist ein langwieriger Prozess und gar nicht mal so einfach“ hatte eine Dozentin im ersten Semester meines Studiums gesagt.
Seitdem beschäftigte mich die Frage, inwiefern es einen Unterschied gab, zwischen meinem annähernd objektiven Urteil und „meinem Geschmack“, woher dieser kam, was er über mich aussagte und wieso ich ihn nicht einfach zu meinem Belieben ändern konnte. Es gab unzählige Filme, die ich bewunderte und doch nicht wirklich mochte und andersherum. Wenn man sich seines Geschmackes schämte, sagte man „Guilty Pleasure“ und es war in Ordnung, doch genau dieser Zwischenraum irritierte mich.
Mir missfällt es, das weiß ich nun, wenn ein Film nicht von mir gemocht werden möchte und zur selben Zeit suche ich noch immer nach dem ungreifbaren Anderen.
Wenn Lesen „Denken mit fremden Gehirn“ ist, wie die Schaufenster diverser Buchhandlungen reklamieren, dann ist das Kino folglich „Sehen durch fremde Augen“. Diese Erwartung hat sich im Laufe der Jahre in mir gefestigt und ist zu dem Motor geworden, der meine Leidenschaft für das Kino am Leben erhält.
„Manche Filme sind ein Stück Leben, meine Filme sind wie ein Stück Kuchen […]. Ein Stück Leben, das haben die Leute zu Hause, sie brauchen kein Geld dafür auszugeben“ sagt Alfred Hitchcock. Es muss selbstverständlich nicht immer ein Stück Kuchen sein, doch unterscheiden sollte es sich doch von mir und meinem zu Hause.
In dieser Hinsicht ziehe ich noch eine andere Lehre aus meiner persönlichen Filmgeschichte:
Wer sich immer nur seinen eigenen Sehgewohnheiten anpasst, wer immer nur konsumiert, was er sowieso schon kennt, wer die Wahl hat und sie zu jeder Zeit nutzt, der wird niemals über seinen Horizont hinausschauen können. Ein Großteil meiner filmischen Prägung war fremdbestimmt. Ich bin mit dem Fernsehen und dem Kino aufgewachsen und habe jeweils gesehen, was mir die Zeitung, meine Eltern, meine Freunde oder später die Universität empfahlen. Wer mit einem Streamingdienst oder einer ähnlichen Videoplattform aufwächst, der sieht nach einer kurzen Evaluationsphase bloß das, was ihm gefällt, ganz zu schweigen von fragwürdigen Trends wie der 1,5fachen Abspielgeschwindigkeit.
Selbstverständlich möchte ich dem Zuschauer damit seine Mündigkeit nicht absprechen, doch es geht um das richtige Verhältnis und eine Bewahrung von Neugierde und Offenheit dem Anderen gegenüber. Aus eben diesem Grund halte ich z.B. die kuratierte Videoplattform Vimeo oder ein öffentlich-rechtliches Medienangebot für wichtig. Film ist keine demokratische Erfahrung.
Der oft angekündigte, aber glücklicherweise ausgebliebene Durchbruch des 360°-Films mit VR-Brille sollte das nächste Entwicklungsstadium darstellen und die Grenzen zum Videospiel endgültig verschwimmen lassen. Doch selbst im Videospiel – einem Medium das mir ebenfalls viel bedeutet – gilt: Je mehr man als Rezipient selber entscheiden darf, und sei es nur der Kamerawinkel auf das Geschehen, desto weniger Dramaturgie, desto weniger Detail, desto weniger Haltung muss der Entwickler beweisen.
Vor einigen Jahren besuchte ich erneut einen Vergnügungspark. Es war zwar nicht der Selbe, in dem sich das stereoskope Kino befand und doch schloss sich in gewisser Weise ein Kreis.
Wir saßen in der Aufführung eines Zauberkünstlers, der uns die Technik der Hypnose näherbringen wollte. „Wir stehen ständig unter Hypnose. Wenn wir ein Buch lesen stehen wir unter Hypnose und wenn wir ins Kino gehen stehen wir unter Hypnose“.
Die Idee des Filmes als Trance oder Traum in der tatsächlichen Wahrnehmung eines Menschen leuchtete mir sofort ein.
Ich dachte: Wie verrückt ist es, dass sich so viele Menschen freiwillig den Träumen Anderer aussetzen, dass Jene, die im realen Leben immer die Kontrolle behalten, diese so bereitwillig aus der Hand geben. Erst da verstand ich, welche Bereicherung es für mich gewesen war, mit dem Kino aufzuwachsen und wie viele Leben ich neben dem meinem bereits gelebt hatte. Ich war fest entschlossen, diese Leidenschaft nie wieder aufzugeben.